Untersuchung und Behandlung kranialer Neuropathien anhand klinischer Klassifikation
Geschichte
Im Zuge der CRAFTA® Ausbildung lernen die Kursteilnehmer die Taxonomien und Klassifikationen der DC/TMD und der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) kennen. Diese Leitlinien sind sehr hilfreich, um den Prozess der Diagnostik und der medizinischen Behandlung auf Basis externaler Evidenz zu verstehen. Therapeuten, welche sich im Bereich kraniofazialer neuromuskuloskelettaler Gebiete spezialisiert haben, erleben es häufig, dass eine große Gruppe an Patienten viele verschiedene Diagnosen erhält und diese trotzdem nicht klar und korrekt erscheinen. Des Öfteren zeigt es sich, dass spezielle bildgebende Verfahren wie CT-Untersuchungen oder MRT-Bilder die zugrundeliegenden Mechanismen kraniofazialer Schmerzen nicht ausreichend erklären können. Neuromuskuloskelettale Untersuchung und Behandlung wie sie während der CRAFTA® Ausbildung erlernt wird, wird seitens klinischer Evidenz unterstützt. Patienten mit langanhaltenden Dysfunktionen und Schmerzen reagieren möglicherweise dadurch deutlich schneller in Richtung Genesung.
Aufgrund der unterschiedlichen klinischen Erfahrungen versuchen CRAFTA® Therapeuten Kopf-, Gesichts- und Nackenschmerzen nach den genannten, standardisierten Leitlinien zu klassifizieren. Parallel dazu versuchen sie jedoch auch die klinische Klassifikation kranialer Neuropathien, welche von Piekartz und Hall (2018) beschrieben wird, in das erlernte Clinical Reasoning zu integrieren.
Diese Klassifikation ist keinesfalls neu. Ähnliche Darstellungen wurden bereits erfolgreich für den Einsatz der Behandlung der oberen und unteren Extremitäten postuliert und erweisen sich als hervorragende Basis im Zuge der Untersuchung und Behandlung komplexer, unklar diagnostizierter Dysfunktionen und Schmerzen (Schäfer et al 2014). Im vorliegenden Statement fassen wir diese klinische Klassifikation zusammen.
Klinische Subklassifikation
Schmerzen neuralen Hintergrundes können grob in 3 Subgruppen basierend auf die Behandlung unterteilt werden, welche sich als wahrscheinlich effektiv zeigt (Schäfer et al 2009). Jede dieser Subgruppen wird mittels behutsamer und umfassender Untersuchung identifiziert und benötigt einen differenzierten Behandlungsansatz.
Die Kategorien wie folgt:
- Neuropathischer Schmerz mit sensorischer Hypersensitivitiät (NPSH)
- Kompressionsneuropathien (KN)
- Periphere Nerven Sensibilisierung (PNS)
1. Kranialer Neuropathischer Schmerz mit sensorischer Hypersensitivitiät (NPSH)
Weitläufige und zugrundeliegende Veränderungen im zentralen und peripheren Nervensystem liegen am extremen Ende des Spektrums chronisch neuropathischer Schmerzen und werden im Rahmen der vorliegenden Klassifikation als NPSH definiert.
Weitläufige und zugrundeliegende Veränderungen im zentralen und peripheren Nervensystem liegen am extremen Ende des Spektrums chronisch neuropathischer Schmerzen und werden im Rahmen der vorliegenden Klassifikation als NPSH definiert.
LANSS. Eine Punkteanzahl größer 12 deutet auf das Vorhandensein neuropathischer Schmerzen hin.
Item | |
1 | Hat der Schmerz Eigenschaften wie Stechen, Kribbeln, Nadelstiche? (ja = 5) |
2 | Sieht die Haut im schmerzenden Bereich anders aus, fleckig, rot / rosa? (ja = 5) |
3 | Verursacht der Schmerz, dass der betroffene Bereich ungewöhnlich berührungsempfindlich ist? (ja = 3) |
4 | Kommt Ihr Schmerz in Schüben - elektrisierend, einschießend oder explodierend (ja = 2) |
5 | Fühlt sich der schmerzhafte Bereich so an, als hätte sich die Hauttemperatur geändert - z. heiß oder brennend (ja = 1) |
6 | Gibt es Hinweise auf mechanische Allodynie? (ja = 5) |
7 | Gibt es Hinweise auf Nadelstich-Hyperalgesie oder Hypoalgesie? (ja = 3) |
The Pain Detect Questionnaire(PDQ) may be an alternative.
Ein NPSH zeigt zusätzlich zumeist das Vorhandensein der folgenden 4 Kriterien, welche die Hypothese in Richtung dieser Diagnose noch wahrscheinlicher machen (Treede, Jensen et al 2008):
- Schmerzen mit einem deutlichen und plausiblen neuro-anatomischen Beitrag. Z.B.: faziale Dysästhesien während der Rasur, einschießende im Verlauf einer Linie beschriebene Schmerzen von proximal nach distal entlang der Mandibula (im Verlauf des N. mandibularis);
- Eine klinische Geschichte, welche im Zusammenhang mit Läsionen oder einer Erkrankung des somatosensorischen Sytems steht. Z.B.: nach Zahnextraktionen und eines zusätzlichen Schleudertraumas vor ein paar Jahren zuvor;
- Nachweis veränderter neurologisch klinischer Zeichen. Z.B.: Veränderungen der Sensibiliät der Haut im Gesicht, inklusive einseitiger Taubheit, Verlust der Ausdauer und Kraft der Muskulatur, oder ein trockener Mund;
- Anomalitäten in den relevanten bestätigenden Tests zum Nachweis einer Läsion oder Erkrankung. Z.B.: reduzierte Nervenleitfähigkeit des N. mandibularis, welche im MRT nachgewiesen werden kann (Treede, Jensen et al 2008).
1.1.Angebrachte klinische Tests
- Sensibilität (leichte Berührung) - Dysästhesie, Allodynie oder Hyperalgesie
- Motorische Kontrolle: Ausdauer, Koordination, Kraft
- Reflexe (zumeist multi-segmental)
- Quantitativ Sensorische Testung (QST)
Weniger angebracht sind
- Palpation und neurodynamische Testung
2. Kompressionsneuropathien (KN)
Kompressionsinduzierende Schäden des peripheren Nervensystems verursachen nicht unbedingt Symptome, wie zuvor erwähnt.
Sogar im Kopfbereich kann es Hinweise auf einen Verlust der Nervenleitung mit minimalen oder keinen Schmerzen geben, wie z. B. Dysarthrie, Hemifazialkrampf, Gesichtslähmung und Diplopie (Haller, Etienne et al. 2016). Die Prävalenz der asymptomatischen Nervenkompression im kraniofazialen Bereich wurde in der CPA untersucht. Beispielsweise gibt es Hinweise auf eine mikrovaskuläre Kompression des Trigeminusnervs in der CPA bei gesunden Menschen mit einer Rate, die fast der gleichen Inzidenz entsprach wie bei symptomatischen Personen mit Trigeminusneuralgie (Peker et al. 2009). Ein weiteres Beispiel ist die Kompression der mentalen oder inferioren Alveolarnerven, die bei einigen Menschen ein „Numb-Chin-Syndrome“ (NCS) ohne Schmerzen im unteren Gesicht verursacht (Smith et al. 2015).
Klinisch stellen wir jedoch fest, dass einige Patienten eine signifikante Bildgebung und klinische Anzeichen einer Kompressionsneuropathie (CN) aufweisen, die mit signifikanten Schmerzen korrelieren, jedoch keine positiven Merkmale aufweisen.
Solche Patienten werden mit neuropathischen Screening-Tools wie der LANSS-Skala negativ getestet (Moloney, Hall et al. 2013). Diese Patienten erfüllen die IASP-Kriterien für neuropathische Schmerzen und fallen gemäß anderen veröffentlichten Richtlinien unter die Kategorie „definitiver neuropathischer Schmerz“ (Treede et al. 2008). Patienten mit CN scheinen jedoch im Vergleich zu Personen mit NPSH anders auf körperliche Eingriffe wie die manuelle Therapie zu reagieren, vermutlich aufgrund eines Unterschieds in den zugrunde liegenden Schmerzmechanismen.
2.1. Klinische Tests KN
- Nicht immer schmerzhaft;
- Verbunden mit Aktivitäten oder Körperhaltungen, die die Kompression der beteiligten neuronalen Strukturen erhöhen;
- Anzeichen eines Verlustes der neurologischen Leitfähigkeit (tiefe Sehnenreflexe, Muskelkraft, Sensibilitätstests und Vibrationswahrnehmung);
- Verändertes benachbartes Nervengewebe, das das Bewegungsverhalten des Nervs beeinflussen kann;
- Aufzeichnung von somatosensorisch evozierten Trigeminuspotentialen und sensorischer Neurographie zur Schädigung myelinisierter sensorischer Fasern wie thermische quantitative sensorische Tests (Erkennung von Trigeminus-Funktionsstörungen bei kleinen Fasern);
- Radiologische und elektrodiagnostische Befunde können dies unterstützen.
Da die Bildgebung an sich für die Diagnose nicht so nützlich ist, kann eine Kombination all dieser Faktoren die diagnostische Genauigkeit verbessern; - Der neurodynamische Test und die Palpation können minimal oder mäßig positiv sein.
2.2. Einteilungssystem für KN
Die Einteilung skizziert ein Bewertungssystem zur Identifizierung von neuropathischen Schmerzen mit Merkmalen von KN basierend auf einer evidenzbasierten Richtlinie. Wenn alle 4 Kriterien erfüllt sind, kann eine endgültige Diagnose von neuropathischen Schmerzen gestellt und die Quelle der Nervenkompression muskuloskelettalen Ursprungs identifiziert werden, um andere Formen von Nervenschäden wie diabetische Neuropathie auszuschließen (Treede, Jensen et al. 2008).
3. Periphere Nervensensibilisierung (PNS)
In diesem Fall wird das Bindegewebe des Nervenstamms sensibilisiert, was Schmerzen aufgrund geringfügiger Nervenschäden erklären könnte (Zusman 2008). Obwohl die Störung den Nervenstamm betrifft, ist der Schmerz nozizeptiv, da keine Schädigung der leitenden Elemente per se auftritt (Zusman 2008). Das Vorhandensein von PNS kann durch sorgfältige klinische Untersuchung, neurodynamische Tests und Palpation des Nervenstamms nachgewiesen werden. Pathophysiologische Veränderungen in nicht-neuralen Geweben neben dem peripheren Nerv können physiologische und physikalische Veränderungen des Nervs und die Entwicklung von PNS hervorrufen, die durch sorgfältige Bewertung identifiziert werden können (Nee & Butler, 2006). Kraniales Nervengewebe kann aufgrund der einzigartigen Beziehungen zu kranialen nicht-neuralen Strukturen von Natur aus anfällig für abnormale neuronale Dynamik und daraus resultierende Entzündungen sein.
3.1. Adäquate klinische Testung
- Verbunden mit Aktivitäten oder Körperhaltungen, die die Mechanosensitivität der beteiligten neuronalen Strukturen verringern;
- Der neurodynamische Test kann aufgrund der erhöhten Mechanosensitivität relevant sein;
- Palpation kann mechanosensitiv sein, was durch den erhöhten C-Faser-Input im Zusammenhang mit der intraneuralen Entzündung verursacht wird;
- Verändertes benachbartes Nervengewebe, das das Bewegungsverhalten des Nervs beeinflussen kann;
- Motorische Funktion als Zielgewebe des betroffenen Nervs, hauptsächlich ausgedrückt in Ausdauer- und Koordinationsstörungen;
- Radiologische und elektrodiagnostische Daten sind nicht hilfreich.
Weniger angemessen
- Der Leitungstest ist möglicherweise weniger relevant. Wenn vorhanden, ändern sie sich häufig nach neurodynamischen Tests und / oder einer Probebehandlung. Wenn die Leitungstests abnormal sind, würde dies wahrscheinlich auf irgendeine Form von KN hinweisen.
3.2. Klinische Klassifikation der kranioneurodynamischen Testung
Während der PNS können neurodynamische Tests am aussagekräftigsten sein. Die Diagnose eines kranialen PNS wird durch eine umfassende Untersuchung durch einen Prozess neurodynamischer Tests gestellt, um eine mechanische Belastung des kranialen Nervensystems zu induzieren. Wir schlagen 3 Kategorien von Tests vor, um verschiedene Teile des Systems (einschließlich Nervenstämme) zu belasten und das Vorhandensein einer kranialen PNS-Störung festzustellen.
- Die erste Kategorie ist die grundlegendste, die den Hirnstamm und die Nerveneintrittszonen sowie das Gewebe im CPA durch Beugung / Streckung der oberen Halswirbelsäule mechanisch herausfordert;
- Die zweite Kategorie. Diese Tests sind relativ einfach durchführbar und können verwendet werden, um ein breites Spektrum von Patienten mit kranialer Dysfunktion und Schmerzen mit einer kranialen neuralen Beteiligung zu untersuchen. Hierbei geht es um die wichtigsten Hirnnerven, einschließlich der N. Trigeminus (V), Fazialis (VII), Vestibulocochlearis (VIII), Accessorius (IX) und Hypoglossus (XII) (Von Piekartz 2007);
- Die dritte Kategorie bewertet die verbleibenden Hirnnerven, die nicht weniger wichtig sind, aber bei bestimmten spezifischen Pathologien und Symptomen auftreten. Diese Tests betreffen die N. Olfactorius (I), Opticus (II), Okulomotorius (III), Trochlearis (IV), Abducens (VI), Glossopharyngeus (IX) und Vagus (X) (Von Piekartz 2007).
Eine Übersicht über den Entscheidungsprozess zur Testung der Mechanosensitivität des kranialen Nervengewebes bei Patienten mit kraniofazialen Schmerzen ist wie folgt dargestellt:
Übersicht der Tests auf Mechanosensitivität des kranialen Nervengewebes bei Patienten mit kraniofazialen Schmerzen (von Piekartz and Hall 2018).
Im Rahmen der Bewertung kann eine Überlappung der 3 Unterklassifizierungen bestehen, die für die Schätzung der unten vorgeschlagenen Managementstrategien und Prognosen wichtig ist.
3.4. Assessment und Management Ziele
- Erkennen der Mechanosensitivität und, wenn möglich, des Bereichs der erhöhten Mechanosensitivität entlang des Nervs;
- Nachweis, ob das zugehörige benachbarte Gewebe um den Nerv mit der erhöhten Mechanosensitivität zusammenhängt;
- Erlangung einer normalen (funktionellen) Bewegung des peripheren Nervs (ohne schwere Entzündung);
- Stimulierung der Aktivität des Zielgewebes durch mentale Übungen und Bewegung ohne Schmerzerfahrung, Fazilitation der normalen Nervenleitung und Verringerung von Körperschemastörungen.
Zusammenfassung Assessment und Management
- Die Reihenfolge der Diagnose sollte NPSH, KN, PNS und Schmerzen des Bewegungsapparates sein. In Abwesenheit eines positiven LANSS (> 12) ist KN die nächste Priorität;
- Drittens basiert die Diagnose von PNS auf dem Fehlen von NPSH und CN, jedoch auf Anzeichen von mechanosensitivem Nervengewebe. Dies ist die Gruppe, die am wahrscheinlichsten auf neuronale Mobilisierungstechniken reagiert;
- Wenn keines der Merkmale in den vorherigen drei Kriterien vorhanden wäre, würde die Symptomatik als muskuloskelettaler Schmerz eingestuft, beispielsweise als arthrogene, myogene oder gemischte TMD.
Hierarchische Klassifizierung kranialer neuronaler Schmerzstörungen in spezifische neuronale Untergruppen mit vorgeschlagenen Bewertungen (von Piekartz and Hall 2018).
Bernard Taxer, Harry von Piekartz
Quellen
- Nee, R. and D. S. Butler (2006). "Management of peripheral neuropathic pain: Integrating neurobiology, neurodynamics, and clinical evidence." Physical Therapy in Sport 7: 36-49.
- Moloney, N. A., T. M. Hall, A. M. Leaver and C. M. Doody (2015). "The clinical utility of pain classification in non-specific arm pain." Man Ther 20(1): 157-165.
- Von Piekartz, H. J. M. (2007). Craniofacial pain: Neuromusculoskeletal assessment, treatment and management. Edinburgh, Butterworth-Heinemann.
- Von Piekartz J, Hall T, Clincial classification of cranial neuropathies, in Temporomandibular Disorders. Manual Therapy, exercise and needling, Fernandez-de-las-Penas C, Mesa Jimenez J , Handspring Publishing, chapter 14;205-271
- Smith, R. D. Treede and T. S. Jensen (2016). "Neuropathic pain: an updated grading system for research and clinical practice." Pain 157(8): 1599-1606.
- Treede, R. D., T. S. Jensen, J. N. Campbell, G. Cruccu, J. O. Dostrovsky, J. W. Griffin, P. Hansson, R. Hughes, T. Nurmikko and J. Serra (2008). "Neuropathic pain: redefinition and a grading system for clinical and research purposes." Neurology 70(18): 1630-1635
- Schӓfer, A., T. M. Hall, K. Ludtke, J. Mallwitz and N. K. Briffa (2009). "Interrater reliability of a new classification system for patients with neural low back-related leg pain." J Man Manip Ther 17(2): 109-117.
- Schӓfer, A. G., T. M. Hall, R. Rolke, R. D. Treede, K. Ludtke, J. Mallwitz and K. N. Briffa (2014). "Low back related leg pain: an investigation of construct validity of a new classification system." J Back Musculoskelet Rehabil 27(4): 409-418.
- Zusman, M. (2008). "Mechanisms of peripheral neuropathic pain: Implications for musculoskeletal physiotherapy." Physical Therapy Reviews 13(5): 313-323.
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