1. Einleitung
Temporomandibuläre Dysfunktionen werden unterschiedlich definiert. Häufig wird die Definition der AAOP benutzt, nach der verschiedene Störungen die Kaumuskeln, das Temporomandibuläre Gelenk (TMG) und seine umgebenden Strukturen betroffen sind (de Leeuw und Klasser, 2008). Das bedeutet, dass mehrere Faktoren TMD beeinflussen, zum Beispiel andauernde Nozizeption aus der betroffenen Region; aber auch beitragende Faktoren wie Parafunktion (Pressen, Zähneknirschen, Nägelkauen), Stress und (schlechte) Okklusion.
Untersuchung und Behandlung von TMD mit orofazialen Dysfunktionen und Schmerzen sind komplex. Der CRAFTA®-Therapeut denkt biopsychosozial / multifaktoriell und orientiert sich an den Richtlinien des o.g. DC/TMD Modells: Achse I und Achse II (Ohrbach et al, 2016). Dieses Modell wird benutzt, weil es evidenzbasiert ist, weil es meistens leicht in Klinik und in Wissenschaft zu integrieren ist, und weil es die Kommunikation mit anderen Spezialisten wie Zahnärzten und Kieferorthopäden erleichtert. Trotzdem lässt sich nicht jeder Patient mit craniofazialer temporomandibulärer Dysfunktion und Schmerzen in dieses Modell einordnen.
Deshalb müssen neue Klassifikationen aus der muskuloskelettalen Perspektive integriert werden (siehe auch klinische Klassifikation von kranialem neuropathischem Schmerz).
2. Untersuchung
Wie schon in der Einleitung betont, werden die Diagnostischen Kriterien für Temporomandibuläre Dysfunktionen (DC/TMD) benutzt (Ohrbach et al, 2016; Schiffman et al, 2014).
Eine vorliegende TMD kann in Achse I (diagnostische Kriterien für myogene, diskogene oder andere Gelenkdysfunktionen) und in Achse II (Behinderung und psychosozialer Status) eingeordnet werden. Die Achsen überlagern sich ein gewisses Stück.
2.a Subjektive Untersuchung
Der Therapeut verschafft sich einen Überblick über die individuellen Probleme des Patienten wie Lokalisation und Verhalten der Beschwerden und die beitragenden Faktoren. Er/sie versucht eine Hypothese zum klinischen Muster zu erstellen, das in die Achse I und II Klassifikation der DC/TMD passen könnte. Fragebogen, die die Hypothesen des CRAFTAâ Therapeuten oft untermauern können, sind:
- Graded Chronic Pain Scale (GCPS): Schmerzintensität und Behinderung aufgrund chronischer Schmerzen können mit diesem Fragebogen bewertet werden. Er kann bei allen chronischen Schmerzen angewendet werden (von Korff et al, 1992).
- Conti Anamnestic Questionnaire (CAQ): Vorliegen und Stärke einer TMD kann durch zehn Fragen über allgemeine TMD-Symptome festgestellt werden (Conti et al, 1996).
- Facial Disability Index (FDI): Behinderungen durch Dysfunktionen der kranialen Nerven können mit diesem Index dargestellt werden (Van Swearingen und Brach, 1996).
- Craniofacial Pain and Diasability Inventory (CF-PDI): mit diesem Fragebogen kann Schmerz, Behinderung und funktioneller Status der kraniomandibulären und der kraniofacialen Region gemessen werden (Madrid et al, 2014).
2b. Physikalische Untersuchung
Die physikalische Untersuchung ist multistrukturell und soll erste Informationen über alle Dysfunktionen geben, die (wichtige) beitragende Faktoren zu den Beschwerden des Patienten sein können. Die angewendeten Teste entsprechen den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Die physikalische Untersuchung umfasst unter anderem:
- Haltung des Patienten und ggf. funktionelle Beziehung zu seinen Beschwerden
- Motorische Kontrolle von Kopf und orofazialer Region
- Differenzierungsteste – um schnell und deutlich herauszufinden, welche die dominant verantwortliche Region ist, werden Differenzierungsteste durchgeführt. Spezifische Teste für die temporomandibuläre Region bestätigen deren Beteiligung
- Aktive physiologische Bewegungen
- Passive Bewegungen (physiologische und Zusatzbewegungen)
- Muskelteste
- Statisch oder isometrisch
- Myofazial, z.B. Triggerpunkte
- Längen- und Dehnteste
- Koordination von Mandibula und Nacken
- Spezifische Teste – lokale Teste zur Differenzierung zwischen intra- und extra-artikulär
- Loadtest
- Sticktest
- Funktionelle Instabilitätsteste
- Palpation der temporomandibulären Region
- Pain mapping
- Gewebequalität
3. Weitere externe oder klinische Beweise stützen die Hypothesen zum individuellen Patienten
Neben der Anwendung der DC/TMD erstellt der CRAFTA®-Therapeut auch Hypothesen zu:
- Schmerzphysiologie; Klassifikation von Schmerz, (extra-) trigeminale Sensitivität, periphere und zentrale Sensibilisierung
- Funktionelle Zusammenhänge mit anderen Körperregionen wie Halswirbelsäule und Haltung
- Beitragende und Risikofaktoren, die die Dysfunktionen dieser individuellen Person verursachen oder unterhalten können (passend zu den OPPERA *- Studien).
- Auch diese Daten werden in die Planung des Kurzzeit- und Langzeitmanagements mit einbezogen.
*Orofacial Pain: Prospective Evaluation and Risk Assessment
4. Management
Behandlungs- und Managementstrategien von CRAFTA® bestehen nicht aus einem Rezept, sondern basieren auf den Ergebnissen der subjektiven und physikalischen Untersuchung, die das individuelle Management indizieren.
Kontinuierliches Wiederholen und Addieren von anderen indizierten klinischen muskuloskelettaler Teste und psychosozialen Untersuchung können die Hypothesen und Behandlungen individuell klinisch beweisen, dies geschieht vor dem Hintergrund der aktuellen externen Beweislage. Die Managementstrategien werden allgemein wie folgt eingeteilt:
- „Hands on“- Strategien - Mobilisation arthrogener Strukturen, Reduzieren von Muskeltonus, Veränderung des propriozeptiven Inputs, Behandlung anderer relevanter neuromuskuloskelettaler Gewebe
- „Hands off“-Strategien – Übungen zur aktiven motorischen Kontrolle, Automobilisation, Stabilisation, Dehnen, Information, kognitive Strategien, Verändern und Neuerlernen (ab-)normaler Gewohnheiten und Haltung, Veränderung des sozialen Umfelds zur Verbesserung der Lebensqualität
- Es werden kurz- und langfristige Therapieziele gesteckt. Der/die Therapeut/in plant als kurzfristig unter anderem Schmerzreduktion und Wiederhelstellung von Funktion; langfristige Ziele können z.B. das Löschen des motorischen Programms einer Parafunktion oder Verbessern von Kraft sein.
- Therapeutische Betreuung ist ein wichtiger Teil des Managements. Dazu können moderne Hilfsmittel wie whats-app oder andere apps (train-yourface.com) benutzt werden, mit denen der Patient beim Erreichen der Therapieziele unterstützt werden kann.
5 Evidenz der TMD-Behandlung
Es gibt zunehmend Beweise für eine spezialisierte Physiotherapie bei TMD. In den letzten zehn Jahren wurden 70% mehr randomisierte Studien (RCTs) und systematische Reviews gemacht, die Physiotherapie zur Behandlung von TMD als spezialisierte Therapie belegen. Die meisten Studien basieren immer noch auf eine vorgegebene schematische Therapie. Da TMD komplex ist, ebenso wie die Beschwerden des Patienten und mögliche Nebenerkrankungen, hat der CRAFTA®-Therapeut das Ziel, den Patienten individuell und auf der Basis der aktuellen klinischen und externen Beweislage zu behandeln.
Referenzen, die dies untermauern:
- Systematisches Review und Metaanalyse von Armijo-Olivo et al, 2016
- Systematisches Review und Metaanalyse von Dickerson et al, 2017
- Systematisches Review und Metaanalyse von La Touche et al, 2018
- Headaches and TMD von Conti et al, 2016
- Cross-sectional-Studie von Von Piekartz et al, 2016
6. Was unterscheidet uns von anderen Therapien
- CRAFTA® Therapeuten behandeln nach Ausbildungsstandards, die sich von anderen Therapien wie Kraniosakraltherapie, Osteopathie und Alternativmedizin unterscheiden
- Wir behandeln in Konsens mit qualifiziertem medizinischem Fachpersonal wie HNO-Ärzte, Logopäden und Kieferorthopäden
- Wir bevorzugen aktives Management, nicht isoliert passive Techniken, wie sie in anderen Disziplinen benutzt werden
- Wir arbeiten mit unseren Patienten und respektieren deren notwendige Behandlungen und WünscheWir behandeln unsere Patienten nicht nach Schema, sondern erstellen für jeden Patienten einen individuell zugeschneiderten Behandlungsplan
7. Zusammenfassung
- Ein/e CRAFTA®-Therapeut/in ist ausgebildet temporomandibuläre Dysfunktion und Schmerzen nach besten aktuellen klinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu behandeln.
- Im Gegensatz zu einem schematischen Ansatz, ergeben die Beschwerden und Dysfunktionen des individuellen Patienten eine individuelle Untersuchung und Behandlung vor dem Hintergrund der medizinischen Diagnose.
- Ein/e CRAFTA®-Therapeut/in wird neben der temporomandibulären Region auch kranioneural, kraniozervikal und andere Regionen untersuchen, um den besten Managementplan für den individuellen Patienten erstellen zu können.
8. Literatur
- Armijo-Olivo, S., Pitance, L., Singh, V., Neto, F., Thie, N., & Michelotti, A. (2016). Effectiveness of manual therapy and therapeutic exercise for temporomandibular disorders: systematic review and meta-analysis. Physical therapy, 96(1), 9-25.
- Conti, P. C. A., Ferreira, P. M., Pegoraro, L. F., Conti, J. V., & Salvador, M. C. (1996). A cross-sectional study of prevalence and etiology of signs and symptoms of temporomandibular disorders in high school and university students. Journal of orofacial pain, 10(3).
- Conti, P.C.R., Costa, Y.M., Gonḉalves, D.A., Svensson, P. (2016). Headaches and myofascial temporomandibular disorders: overlapping entities, separate managements? Journal of oral rehabilitation, 43, 702-715.
- De Leeuw, R., & Klasser, G. D. (2008). Orofacial pain: guidelines for assessment, diagnosis, and management. Am J Orthod Dentofacial Orthop, 134, 171.
- Dickerson, S. M., Weaver, J. M., Boyson, A. N., Thacker, J. A., Junak, A. A., Ritzline, P. D., & Donaldson, M. B. (2017). The effectiveness of exercise therapy for temporomandibular dysfunction: a systematic review and meta-analysis. Clinical rehabilitation, 31(8), 1039-1048.
- La Touche, R., Paris‐Alemany, A., Hidalgo‐Pérez, A., López‐de‐Uralde‐Villanueva, I., Angulo‐Diaz‐Parreño, S., & Muñoz‐García, D. (2018). Evidence for Central Sensitization in Patients with Temporomandibular Disorders: A Systematic Review and Meta‐analysis of Observational Studies. Pain Practice, 18(3), 388-409
- Madrid, A., Carlos, R. J., La Touche, R., de Estudios, C. S., La Salle, U., & la Salle, C. (2014). Craniofacial pain and disability inventory (CF-PDI): development and psychometric validation of a new questionnaire. Pain Physician, 17, 95-108.
- Olivo, S. A., Fuentes, J., Major, P. W., Warren, S., Thie, N. M. R., & Magee, D. J. (2010). The association between neck disability and jaw disability. Journal of oral rehabilitation, 37(9), 670-679.
- Schiffman, E., Ohrbach, R., Truelove, E., Look, J., Anderson, G., Goulet, J. P. & Svensson, P. (2014). Diagnostic criteria for temporomandibular disorders (DC/TMD) for clinical and research applications: recommendations of the International RDC/TMD Consortium Network and Orofacial Pain Special Interest Group. Journal of oral & facial pain and headache, 28(1), 6.
- Ohrbach, R, editor. Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders: Assessment Instruments. (Version 15 May 2016). [Diagnostische Criteria voor Temporomandibulaire Disfunctie: Onderzoeksinstrumenten: Dutch Version 14 June 2016]. Knibbe W, Loyen NA, Meulen MJ van der & Lobbezoo F, Trans. rdc-tmdinternational.org Accessed on 24-06-2016
- VanSwearingen, J. M., & Brach, J. S. (1996). The Facial Disability Index: reliability and validity of a disability assessment instrument for disorders of the facial neuromuscular system. Physical therapy, 76(12), 1288-1298.
- Von Korff, M., Ormel, J., Keefe, F. J., & Dworkin, S. F. (1992). Grading the severity of chronic Pain, 50(2), 133-149.
- Von Piekartz, H., Pudelko, A., Danzeisen, M., Hall, T., Ballenberger, N., (2016). Do subjects with acute/subacute temporomandibular disorder have associated cervical impairments: A cross-sectional study. Manual therapy, 26(2016), 208-215
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